Glosse - Chef werden

Georg M. Sieber

In Schwabing ist das ZAAR, das Zentrum für Arbeitsbeziehungen und Arbeitsrecht. Dort ist unterm Schirm der Universität zu erleben, wie sich in heiligem Ernst Studierende samt Erstsemester mit grauhaarigen Fahrensleuten zu Themen treffen, von denen normale Manager nur ungern Notiz nehmen. Deutliches Interesse finden hier nur scheinbar rechtsfreie Soft Skills, wie sie in Seminaren von US-dressierten consulting experts und coaches gepriesen werden.

Sobald im ZAAR das Mikro ins OFF geschaltet wird, breitet sich Laborstimmung aus – wenn etwa die BWL-Studentin dem Referenten mit einer Grundsatzfrage Feuer machen möchte. Da gelingt die Wortfindung nur selten auf Anhieb. Aber auch der hier eigentlich fachfremde Psychologe hat Mühe, sich nicht nur gendergerecht, sondern auch deutlich operativ zu artikulieren. Gern würde man ja gerade hier irgendwie betriebserfahren erscheinen. In der ZAAR-Schule des Lebens gibt mancher fachgeadelte Teilnehmer den Lehrer – gern auch mit missmutigem Augenrollen, mit lautem Seufzer und aufgeregtem Geflüster der Mitwissenden.  

Wer als Zwanzigjähriger mit so einer Situation fertig wird, hat die Basislektion des Chefwerdens auf dem Schirm:

Auf instabile Gruppensituationen mit Dominanz reagieren










Es ist die gleiche Art von Dominanz, die zu forensischen Siegen führt. Sie zeigt keine Erregtheit. Sie schreit nicht. Sie wird allein von Pathos befeuert. Das Dominanzpathos erwirbt der künftige Chef in sehr jungen Jahren schon zu Schülerzeiten – etwa bei den Pfadfindern. „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben!“ zitierte einst der große Michail Gorbatschow und meinte damit: Wer mit Rad-, Schlittschuh- oder Schifahren erst im Rentenalter beginnt, wird es damit wohl noch ziemlich lange ziemlich schwer haben. Der heutige Ju-Ju, der Jungjurist, kommt also garantiert leichter nach oben, wenn er schon als Schüler für sich einen mentalen Bolzplatz wie das ZAAR gefunden hatte. Im Vorteil ist aber auch sonst jede(r) in instabilen Verhältnissen – sie sind die unfehlbare Schule für Dominanz. Das bestätigt übrigens, warum so viele Bio-grafien „großer“ Persönlichkeiten mit prekären Familiensituationen beginnen.

Erste Zutat zur Dominanz ist frühe „Transparenz“- erfahrung

In alten Betriebsanweisungen trifft man zuweilen auf das Wort Transparent. Darunter verstand früher jedermann ein Spruchband, ein an die Kantinenwand oder quer über die Straße gespanntes Textil mit einem weithin lesbaren Motto oder Spruch – meist mit Erlaubnis der Obrigkeit. Transparent ist eine sekundäre französische Ableitung aus dem Lateinischen transparere. Die korrekte Übersetzung heißt (hin)durchscheinen. Transparent steht eigentlich für durchscheinend, wird aber ins Deutsche schon seit Jahren ohne Bedenken mit „durchsichtig“ übersetzt. Nun sind jedoch „durchscheinend“ und „durchsichtig“ zwei sehr unterschiedliche Qualitäten. Ein durchscheinendes Hemd und ein durchsichtiges Hemd sind eben nicht das Gleiche.










Wenn aus Durchscheinenden etwas Durchsichtiges wird, beginnt nicht selten ein schmerzhafter Skandal. So war das mit einer staunenswerten Maskerade in 2019/2021. Es ging um Provisionen für Schutzmaskengeschäfte von Parlamentariern. Das wirkte auf viele Beobachter auf den ersten Blick nur durchscheinend. Erst bei genauerem Hin-schauen wurde klar: Die Kuverts mit dem Baren waren durchsichtig. Durchscheinend und durchsichtig – das sind sehr unterschiedliche Qualitäten. Verbrechen unterm Schleier sind weniger strafbar als Ordnungswidrigkeiten unterm Glassturz. Deswegen sollte das natürliche Schamgefühl verhindern, bedingungslos den öffentlichen Einblick in alle Einnahmen und Ausgaben eines Ex-Justiz-ministers zu fordern.

Unter Willy Brandt gab es schon die Rede vom „gläsernen Abgeordneten“. So eine Kombination sollte einem CSU- oder CDU-Vorstand nur dann über die Lippen gehen, wenn er eine makellose und bitte wirklich durchsichtige Persönlichkeit meint. Andernfalls wäre die Rede von durchscheinenden Risiken, vom Anschein eines Missgriffs oder scheinbaren Problemen ehrlicher. Transparenz-bedingte Zweifel sind allemal erträglich. Dagegen wird der gänzlich ungeschützte Blick auf Zweifelhaftes definitiv zum Makel. Lieber Durchscheinendes als Durchsichtiges. 

Transparenz beginnt in der hohen Politik wie am familiären Frühstückstisch mit Bekenntnissen: Wir wollen keine Geheimnisse voreinander haben, bitte kein Theater vorspielen, offen und ehrlich sagen, wo wir stehen usw. Bekenntnisse solcher Art versprechen ein überzeugendes Maß an Transparenz. Da darf zu Beginn einer Debatte risikofrei sozusagen im ersten Büchsenlicht durchschei-nen, was jemand denken und für richtig halten könnte. Anschließend sollte aber der mutige Bekenner unbedingt jede Art von prüfbarem Klartext meiden. Bekenntnisse zur Transparenz nützen immer nur so lange, wie keiner direkt zugreifen kann.

Das gilt für Vater und Mutter wie für ranghohe Beamte und Minister. Wer durchsichtig wird, verliert das Spiel. Wer den Drang spürt, sich als transparent zu beweisen, der sollte sich lieber zurückziehen.

Die enge Nachbarschaft des Durchscheinenden mit dem Durchsichtigen besteht nicht nur unter Menschen. Sie ist gleichermaßen unter Tieren alltäglich. Wer hat noch nie von den berühmten Graugänsen des Verhaltensforschers Konrad Lorenz gehört? Zahlreiche und unterschiedlichste Arten und Gattungen beweisen vergleichbares „mensch-liches“ Sozialverhalten. Nebelkrähen, Braunbären oder Krabben – sogar noch so brave Haustiere spielen den gut sortierten Kanon bewährter Transparenzmanöver. Sie bekennen sich meistens wehrhaft und erweisen sich im entscheidenden Augenblick als Friedenstaube. Nur der Mensch muss sie –natürlich– übertreffen. Zum eigenen Wohlbefinden übt er lieber das Täuschen und Tarnen, statt zu jeder Provokation die Fäuste zu ballen.

Derzeit stehen vollmundige Bekenntnisse zur Transparenz hoch im Kurs. Das könnte eine verspätete Reaktion auf die Manipulationen sein, die nicht nur die Corona-Deals vergiftet haben. Ob Bank oder Handel, ob Versicherung oder Industrie, ob Sport oder Touristik, Militär oder Kirche – Woche für Woche tauchen Betrugsnachrichten auf, in denen die „Eliten“ eine Hauptrolle spielen: Titel- und Ordensträger, Milliardäre, Kardinäle, Industrieherren, Klimakämpfer oder Motoren-Entwickler, sogar auch medial bestätigte und lorbeerbekränzte Wohltäter. Wenn sie plump durchsichtig statt elegant transparent agiert hätten, wäre unser Wohlbefinden wohl noch mehr lädiert worden – allerdings vielleicht sogar mit therapeutischer Nebenwirkung. 











Die zweite Zutat zur Dominanz: Das Kommando

Transparenz-Bekenntnisse allein bleiben im Berufsalltag wie im Familienkreis ohne Dominanznutzen. Ein zweites Element muss dazukommen: Das „situativ gerichtete Kommando“. Man kann nur spekulieren, ob wohl solche Kommandos wirklich aus der Warnung vor einer Gefahr hervorgegangen sind wie z.B. „Versteckt Euch!“ oder aus Aufforderungen zu einer bestimmten Leistung: „Ziehen!“. Jedenfalls zeigten in den 50er Jahren die Experimente von Alfred Fiedler, dass jede Art von Kommando zu einer Steigerung der Gefügigkeit und/oder Aufmerksamkeit gegenüber dem Kommandogeber führen kann. Wurde auf solche Kommandos verzichtet, nahm die Akzeptanz von Ansprachen oder optischen Signalen signifikant ab. Die Offenheit für Dominanzgebaren wird zwar erworben, muss aber fallweise durch ein Signal aktiviert werden.

Der künftige Chef muss also erstens ein eifriger Bekenner zur Transparenz und zweitens ein klarer Signalgeber sein, sobald die Situation dies zweckmäßig erscheinen lässt.

Das Gewürz im Dominanz-Mix: Lob und Zuneigung

Schon vor Jahrhunderten klagte man am längsten und liebsten darüber, dass bei Lohn und Lob gleichermaßen gegeizt werde. „Kein Tadel – das ist schon genug an Lob!“ So ist jedoch in alemannischen Stammlanden zu hören -meist getarnt in halsbrecherischen Dialekten und mit heftigem Augenzwinkern. Das sollte niemanden abhalten, sich rein vorsorglich eine verlässliche, wenn auch noch so magere Lob-Routine zuzulegen. Das lernt man am besten in der Familienrunde – je früher, desto besser.

Apropos: In Zeiten hektischer Suche nach durchsetzungs-starken, kommunikativen und mediationsbegabten Führungsbegabungen unter den Absolventen der besten Universitäten könnte man getrost das eine oder andere abhaken: Den Rorschachtest, manche Intelligenztests, beliebte US-Persönlichkeitsinventare und natürlich das unsichtbare Dutzend der Tiefen-, Investigativ-, Analyse-, Destruktions- oder auch Prognostik- und u.v.m.-Interviews, die „uvm“ heißen, weil das die Abkürzung für „und vieles mehr“ ist.

Interview ist lateinisch-englisch und heißt wörtlich „Zwischenblick“. Sinngemäß soll das der „Blick zwischen die Zeilen des Dokuments“ sein. Das ist vielleicht sogar verwandt mit dem deutschen „Zwischen-den-Zeilen-lesen“. Wahrscheinlich waren es Mediziner früherer Jahrhunderte, die ein Wort für etwas konstruierten, was sie zu tun beabsichtigten, ohne dies offen anzukündigen. Bei „Interview“ kam kaum jemand darauf, dass eine mehr oder weniger intelligente Fragestunde gemeint war. Seit einigen Jahren übrigens heißt das Tarnwort „Audit“, lateinisch für „er, sie, es hört“. Es liegt immerhin etwas näher bei Anhörung, als bei Interview ...

 





Unser Autor

Ge­org M. Sie­­­ber, Jahr­­­­­gang 1935, ist Di­­­­plom­­­psy­­­­cho­­­­­­lo­­­ge in Mün­­­­­chen. 1964 grün­­­­­de­­t­e er sein In­­­s­­ti­­­­­tut für An­­­­­­ge­­­­­­wand­­­­­te Psy­­­­cho­­­­­­lo­­­­gie, die In­­­­­te­l­­l­i­­­­­genz Sys­­­­tem Tran­s­­­­­­fer GmbH (11 Nie­­­der­­­­­las­s­­­un­­g­­en). Sein per­­­­­­sön­­­­­­li­ch­­es In­­­­­te­r­­­­­es­­­sen­­­­­­ge­­­­­biet sind Schrif­­­­t­­en his­­­­­­to­­­r­­i­sch­­­­er Vor­­­­­­läu­­f­­­er der heu­­­­t­­i­­­gen Psy­­­­­cho­­­­­­lo­­­­­gie, de Fe­­­­de­­r­­­i­­co II., Ma­­­chi­a­­­­vel­­li, Pa­­­l­la­­d­i­o, Í­­ni­­go Ló­­pez de Lo­­­yo­­­la u.a. Für den fach­­­­­li­ch­­­en Aus­­­­­tausch steht er ger­­­ne zur Ver­­­­­fü­­g­­­ung: 089 / 16 88 011 oder per e­Mail: Georg.Sieber@IST-Muenchen.de

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