Richterlicher Ermessensfehlgebrauch

- Einflussnahme auf die gerichtliche Entscheidung & Fortwirkung auf weitere Verfahren -

I. Einführung

In 3 % - 5 % aller streitigen Sorgerechts- oder Umgangsrechtsverfahren werden psychologische Sachverständigengutachten in Auftrag gegeben.

Dem liegt Folgendes zugrunde:

Durch die Trennung und anschließende Scheidung können sich vorhandene Probleme der Elternteile verstärken oder neue Probleme entstehen. Häufig ergeben sich die Fragen, ob das Sorgerecht oder Teile des Sorgerechts einem Elternteil allein übertragen werden sollen oder wie Umgangskontakte zu gestalten sind. Bei einer Gefährdung des Kindeswohls kann auch der Ausschluss des Umgangsrechts oder die Entziehung der elterlichen Sorge oder Teile der elterlichen Sorge in Betracht kommen, allerdings nur in Ausnahmefällen.

Wenn es in dem Verfahren vor dem Familiengericht nicht zu einer einvernehmlichen Lösung zwischen den Eltern gekommen ist und der Richter weder seine Berufserfahrung noch seine "allgemeine Lebenserfahrung" als ausreichend erachtet, um eine Entscheidung zu treffen, bedient er sich des fachspezifischen Wissens des Psychologen, indem er die Einholung eines psychologischen Sachverständigengutachtens anordnet.

Hieraus ergibt sich die Problematik, dass der Richter im Rahmen der freien Beweiswürdigung eine eigene, unabhängige, die Ausführungen des Sachverständigen selbständig wertende Entscheidung treffen soll, das Gutachten aber möglicherweise nicht in jedem Punkt verständlich und nachvollziehbar ist. Wird dies bemerkt, kann der Gutachter hierzu ergänzend befragt werden. Sofern dies seitens des Gerichtes nicht bemerkt wird – was aufgrund Verwendung einer Fachsprache und Fachbegriffs denkbar ist – wird eine selbständig wertende Entscheidung des Gerichts unmöglich.

Wenn sich das Gericht fernerhin ausschließlich auf die gutachterliche Empfehlung stützt, stellt sich die Frage, ob der Sachverständige nur Berater oder Gehilfe des Richters ist oder bereits selbst das Verfahren in Teilen beherrscht? Zudem neigen Parteien zu einer Konfliktverlagerung, so dass es häufig auch zu weiteren Verfahren kommt.

Die Feststellungen, die ein Gutachter in Sorgerechtsverfahren trifft, können auch auf weitere Verfahren Einfluss ausüben.

Inwieweit eine Einflussnahme von Sachverständigengutachten auf die Entscheidung des Gerichts gegeben ist, lässt sich einerseits anhand der Untersuchung einzelner Bereiche wie der Formulierung der Beweisfrage durch das Gericht, der Bedeutung des Amtsermittlungsgrundsatzes, der formalen Voraussetzungen für die Gutachteneinholung oder der Auswahl des Sachverständigen vermuten.

Andererseits gibt hierüber auch die Möglichkeit der Einflussnahme durch die Parteien Anhaltspunkte. Hierfür sind die Möglichkeiten der Ablehnung des Sachverständigen durch die Parteien sowie die Notwendigkeit der Einwilligung der zu begutachtenden Personen zu berücksichtigen.

Fernerhin lässt sich die Frage der Intensität des Einflusses durch die Überprüfung feststellen, inwieweit die Empfehlung des Sachverständigen in der gerichtlichen Entscheidung übernommen wird. Noch deutlicher kann der Einfluss dadurch sichtbar werden, inwieweit ein Gericht eine eigene Begründung abgibt oder ausschließlich der Begründung des Gutachters folgt.

Darüber hinaus ergibt sich die Frage, ob der Einfluss eines Gutachtens auch über das Verfahren, in dem es eingeholt wurde, hinaus Wirkung zwischen den gleichen Parteien entfalten kann, etwa in zeitlich späteren Verfahren betreffend der Kinder, aber auch in Unterhalts- oder vermögensrechtlichen Streitigkeiten.


II. Hauptprobleme 

Hauptprobleme bei der Gutachtenerstellung sind die Gefahren der Kompetenzüberschreitung durch den Sachverständigen, der Einfluss des Sachverständigen auf die Entscheidung des Richters sowie die beschränkten Einflussmöglichkeiten der Parteien und die dadurch bedingte Gefahr der mangelnden Akzeptanz des Gutachtens. Je größer der Einfluss des Gutachtens ist, um so bedeutungsvoller ist auch die Frage nach der Qualität des Gutachtens. Unentdeckte Mängel des Gutachtens können die gesetzliche Entscheidung dann prägen, wenn sich das Gericht ohne weitere Begründung auf die Ausführungen des Gutachtens stützt.

Um die Dimension dieses Problemfeldes zu erkennen, ist es daher zunächst interessant, die Übereinstimmung der Entscheidung des Gerichts mit der Empfehlung des Gutachtens zu überprüfen. Allein dies sagt jedoch noch nichts aus. Wesentlich aussagekräftiger ist die Überprüfung der Frage, inwieweit sich das Gericht auf Begründungen des Gutachtens stützt und inwieweit es eigene Begründungen abgibt.

Vorab kann ausgeführt werden, dass sich in Bereichen des Sorge- und Umgangsrechts die überwiegende Übereinstimmung der Empfehlungen des Gutachtens und der gerichtlichen Unterscheidung immer wieder bestätigt hat.

Fernerhin kann die erhebliche Einflussnahme von Gutachten auch anhand der Untersuchung geklärt werden, inwiefern ein Gutachten auch auf ein anderes Verfahren, unabhängig von dem Verfahren, in dem das Gutachten eingeholt wurde, zwischen den gleichen Parteien Erwähnung findet und Auswirkungen hat.

Da die Parteien eines Umgangs- oder Sorgerechtsstreits ein Leben lang Eltern sind und bleiben, schließen sich häufig Verfahren über Umgangs- oder Sorgerecht zwischen den gleichen Parteien an.

Ein möglicherweise mit Mängeln behaftetes Gutachten eines zuvor erfolgten Verfahrens könnte herangezogen werden. In diesem Fall hätte das Gutachten zudem Einfluss auf weitere Verfahren zwischen den gleichen Parteien, unabhängig davon, inwieweit es an Mängeln leidet oder nicht.

Anhand der Untersuchung dieser beiden Bereiche lässt sich bereits das Ausmaß der Einflussnahme erkennen.


III. Untersuchungsergebnisse

Zur Beantwortung der aufgeworfenen Fragen stellte ich Hypothesen auf. Anhand einer empirischen Untersuchung überprüfte ich, ob sich die aufgestellten Hypothesen bestätigten.

Zur Verwirklichung dieser Ziele wurde in dem Zeitraum Januar bis einschließlich November 1999 bei dem Amtsgericht Münster anhand von Aktenvorgängen aus den Jahren 1987-1998 eine Vollerhebung durchgeführt. Die Stadt Münster hat ca. 275.000 Einwohner. An dem Amtsgericht Münster waren zu dem damaligen Zeitpunkt 10 Abteilungen in Familiensachen eingerichtet.

Es wurden 172 Verfahren ermittelt, in denen Gutachten eingeholt worden waren und die Grundlage der Untersuchung wurden. 80 Verfahren hiervon waren hoch streitig, so dass sich hieran auch weitere Verfahren zwischen den gleichen Parteien anschlossen, die ebenfalls das Sorge- oder Umgangsrecht zum Gegenstand hatten oder andere streitige Bereiche wie Unterhalt, Zugewinn, Wohnungszuweisung oder Hausrat. Diese Verfahren habe ich als "Folgeverfahren" bezeichnet.

1. Es wurde u.a. von der Hypothese ausgegangen, dass der Inhalt der verfahrensbeendigenden Entscheidung (Urteil/Beschluss/Vergleich) der Empfehlung des Sachverständigen entspricht. In die Kategorie der verfahrensbeendigenden Entscheidung wurden auch auf Vorschlag des Gerichts geschlossene Vergleiche einbezogen, da der Inhalt der Vereinbarung durch den vorherigen Verfahrensablauf ebenso geprägt ist wie die gerichtliche Entscheidung. Überdies wurden etwa 70 % der Verfahren durch gerichtliche Entscheidung beendet.

Die Annahmen bestätigten sich. In 90,91 % der untersuchten Gutachten entsprach der Inhalt der Verfahrensbeendigung der Empfehlung des Gutachters, nur in 9,09 % war die Empfehlung des Gutachters und die verfahrensbeendigende Entscheidung unterschiedlich.



 

Zu berücksichtigen ist allerdings, dass diese Frage bereits mehrfach Gegenstand empirischer Untersuchungen war und überwiegend bejaht wurde, nicht nur im Rahmen familienrechtlicher Begutachtung. Zudem hat sich die weit überwiegende Übereinstimmung insbesondere im Bereich der Sorge- und Umgangsrechtsentscheidungen immer wieder bestätigt.

2. Ferner wurde die Hypothese aufgestellt, dass das Gericht sich in der Begründung seiner Entscheidung ausschließlich auf die Ausführungen des Gutachters beziehe. Gegenstand dieser Untersuchung konnten lediglich die Verfahren sein, die eine gerichtliche Entscheidung aufwiesen (keine Vergleiche).

Eine Beurteilung wurde anhand von 5 Kategorien vorgenommen: Unterschieden wurde einerseits der Fall, dass das Gericht ausschließlich eine eigene Begründung abgibt und es sich andererseits nur auf die Begründung des Sachverständigen bezieht. Ergänzend kam die Kategorie hinzu, nach der das Gericht zusätzlich zu dem Bezug auf das Sachverständigengutachten eine eigene Begründung abgibt und die Kategorie, nach der das Gericht überwiegend eine eigene Begründung abgibt. Schließlich wurden die Fälle isoliert, in denen keine Begründung erfolgte, teilweise wegen übereinstimmenden Vorschlags beider Parteien.














In mehr als einem Drittel der Fälle bezieht sich das Gericht tatsächlich ausschließlich auf die Begründung des Sachverständigen. In etwa weiteren 10 % der Fälle stützt sich das Gericht weitestgehend auf die Begründung des Sachverständigen unter zusätzlicher eigener Begründung. Dagegen gibt das Gericht in fast 10 % der Fälle ausschließlich eine eigene Begründung ab. In etwa 25 % der Fälle gibt das Gericht weitestgehend eine eigene Begründung ab und nimmt nur ergänzend Bezug auf das Gutachten, Fasst man diese beiden Kategorien zusammen, so ist festzustellen, dass in etwa einem weiteren Drittel überwiegend eigene Begründungen des Gerichts zu erkennen sind. Demgegenüber stützt sich das Gericht in etwa 45 % der Fälle überwiegend oder vollständig auf das Gutachten.

Hieraus ergibt sich Folgendes: Durch die überwiegend eigene Begründung in über einem Drittel der Fälle wird die Entscheidungsunabhängigkeit des Gerichts dokumentiert. Hierdurch wird das dominante Bild des Sachverständigen, das sich aus der Auswertung des 1. Schaubildes ergibt, relativiert. Gleichwohl verbleibt es in einer ebenfalls hohen Anzahl der Fälle (über 45 %) bei einer Konzentration auf die Begründung des Sachverständigen. Die Untersuchung bestätigt die Hypothese insoweit nur bedingt.

3. Einflussnahme auf Folgeverfahren

Es wurde bereits erwähnt, dass hoch streitige Sorgerechts- oder Umgangsrechtsverfahren auch teilweise weitere Verfahren zwischen den gleichen Parteien zur Folge haben, die sich ebenfalls erneut mit Problemen des Umgangs- oder Sorgerechts befassen oder mit vermögensrechtlichen Fragen wie Unterhalt für Kinder oder Ehegatten, Zugewinn, Wohnungszuweisung oder Hausrat. Sofern ein Gutachten eingeholt wurde, liegt der Gedanke nahe, dass, sofern es Aussagen enthält, die das neue Begehren einer Partei unterstützen, diese ein Interesse daran hat, das Gutachten in den neuen Rechtsstreit einzuführen oder sich zumindest hierauf zu berufen und die Akten beiziehen zu lassen.


Sollte das Gutachten dann zumindest Einfluss auf das Folgeverfahren haben, könnte sich der Einfluss des Sachverständigen und sämtliche im Zusammenhang mit dem Gutachten bestehenden Probleme selbst in weiteren Verfahren auswirken und fortsetzen. Hierdurch würde sich die Einflussnahme des Gutachters weiter verstärken. Um diese Frage zu untersuchen, wurden verschiedene Kategorien entwickelt, unter anderem wurde überprüft, wie häufig das ursprüngliche Verfahren, in dem das Gutachten eingeholt wurde (bezeichnet als "Hauptverfahren") in weiteren Verfahren erwähnt wurde.

Dabei erfolgte ein Vergleich zwischen den hoch streitigen Verfahren mit Folgeverfahren, in denen Gutachten eingeholt wurden und einer gleichen Anzahl hoch streitiger Verfahren, denen weitere Verfahren zwischen den gleichen Parteien folgten (Folgeverfahren), in denen kein Gutachten eingeholt wurde.

Ferner erfolgte eine Unterscheidung zwischen nachfolgenden Umgangs- und Sorgerechtsverfahren (bezeichnet als "Kinderfolgeverfahren") und nachfolgenden vermögensrechtlichen Verfahren (bezeichnet als "ökonomische Folgeverfahren").

Zur Vereinfachung sind in dem obigen Schaubild Kinderfolgeverfahren und ökonomische Folgeverfahren zusammengefasst. Der hintere dunkelgraue Bereich zeigt die Folgeverfahren aufgrund Hauptverfahren mit Gutachten. Der vordere hellgraue Bereich bildet demgegenüber den Anteil der Folgeverfahren aufgrund eines Hauptverfahrens ohne Gutachten ab. Der rechte Balken bildet die Anzahl der Verfahren ab, in denen das Hauptverfahren nicht in den Folgeverfahren erwähnt wurde. Dies macht bei den Verfahren mit Gutachten einen Anteil von rund 70 % aus. Der linke Balken zeigt die Verfahren, bei denen das ursprüngliche Verfahren, in dem ein Gutachten eingeholt wurde, in den Folgeverfahren erwähnt wird. Dies macht bei den Verfahren mit Gutachten einen Anteil von etwa 30 % aus.

Auffällig ist bei einem Vergleich des hinteren mit dem vorderen Bereich, dass eine Erwähnung des Hauptverfahrens, in dem kein Gutachten eingeholt wurde, kaum stattfindet, während bei den Verfahren mit Gutachten in einem Drittel aller Fälle in den Folgeverfahren auf das ursprüngliche Verfahren Bezug genommen wird. Ergänzend ist anzuführen, dass bei Isolierung der Kinderfolgeverfahren festgestellt wurde, dass der Anteil der Folgeverfahren, in denen das Hauptverfahren mit Gutachten erwähnt wird, sogar bei rund 45 % liegt.

Die Untersuchung zeigt, dass sich tendenziell deutlich mehr Beteiligte auf ein Verfahren beziehen, das ein Gutachten zur Grundlage hat. Hierdurch wird ein Einfluss des Gutachtens auch auf weitere Verfahren durchaus ersichtlich, insbesondere auf Verfahren, die ebenfalls das Sorgerecht oder das Umgangsrecht betreffen. Somit ist der Einfluss umso höher, je sachnäher ein weiteres Verfahren ist.

IV. Folgerungen und Zusammenfassung

Die Untersuchung zeigte, dass die Gerichte fast immer die Empfehlung des Gutachters in ihrer Entscheidung übernehmen, wie dies auch schon in früheren Untersuchungen festzustellen war. Bei der Frage, inwieweit die Gerichte eigene Begründungen abgeben oder sich nur auf die Begründung des Gutachters berufen, wurde deutlich, dass das Gericht sich in über der Hälfte der Fälle auf die Ausführungen des Gutachters bezog oder keine besondere eigene Begründung abgab. Die gutachterlichen Feststellungen erhalten hierdurch erhebliches Gewicht. Ein maßgeblicher Einfluss auf Folgeverfahren konnte insbesondere bei den weiteren Verfahren bezüglich der Kinder festgestellt werden.

Jedoch haben sowohl die Parteien als auch das Gericht Möglichkeiten der Einflussnahme: Die Parteien können über die Ablehnung des Sachverständigen oder Beschwerde gegen fehlerhafte Ermessensausübung ihre Auffassung darlegen. Das Gericht kann durch einen möglichst präzisen Beweisbeschluss den Sachverständigen lenken und kontrollieren. Inwieweit diese Möglichkeiten allerdings in der Praxis zu dem gewünschten Ergebnis oder Erfolg verhelfen können, bleibt fraglich. Häufig bleiben bei den Betroffenen ungelöste Konflikte zurück, die wiederum zu neuen Verfahren führen können.

An dieser Stelle wäre es erforderlich, durch eine transparentere Begutachtung eine bessere Bewertungsgrundlage zu schaffen und somit auch bessere Voraussetzungen für die Akzeptanz von Entscheidungen, die nicht den Erwartungen einer Partei entsprechen15. Sofern sich weitere Verfahren anschließen, zeigt die Untersuchung, dass das einmal eingeholte Gutachten Einfluss auf weitere Verfahren nehmen kann und somit ebenfalls der Arbeit des Sachverständigen erhebliche Bedeutung verleiht.

von Rechtsanwältin Dr. Tina Kohring, Kanzlei Dr. Kohring & Eberhardt, Kamen

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