Glosse - ehrlich. Aber was mit Karriere!
Georg M. Sieber
Es ist leider nur ein kleinkarierter Befindlichkeitsmythos, den TV-Reportagen seit Monaten und Wochen in die Marktbesucher und Spaziergänger unserer Städte hineinfragen. Was machen die da?
An einem bewährten Fachbegriff des Justizvollzugs klebt mancher der Berichterstatter wie die Fliege am Honigstreifen. „Lockerung“. Das Wort steht bekanntlich für Hafterleichterung. Es wurde aus dem Knast-Jargon in die Redaktionssprache durchgereicht. Eine Lockerung wird „gewährt“ – von ganz oben. Das kann ein Stadtgang sein unter Bewachung, ein Treffen mit der Ehefrau, ein echter Freigang und sogar eine Arbeitsstelle außerhalb der Anstalt. Den Empfang eines „Fresspakets“ und den daraus folgenden Verzehr oder einen Besuch im Bad - Lockerungen muss man sich verdienen. Sie können ja trotzdem jederzeit reduziert oder „entzogen“ werden. Das Gewähren und der strafende Entzug sind disziplinare „Instrumente“. Die dienen selbstverständlich nur dem einen obersten Zweck, den und die Gefangenen wieder in die Gesellschaft einzugliedern.
Warum aber viele der Pandemie-Kundschafter so engagiert und freudig erregt von Lockerungen schreiben und reden? Deuten sie das aktuelle Infektionsrisiko als eine Haftstrafe und die Regierung als den Vorstand im Strafvollzug? Sind es böse Kindheitsträume aus leidvollen Jahren in einem „strengen“ Internat? Eigene Knasterfahrung? Vorliebe für SM-Filme? Oder auch nur ein grimmiges Elternhaus? Vielleicht nur ein harter Chef?
Moderne Psychologen sprechen von dem großen Glück, dass die meisten Kindheits- und Jugendwahrnehmungen nicht bewusstseins- und daher auch nicht speicherfähig sind. Noch Freud glaubte ja fest an die ungefilterte Wirksamkeit früher Erfahrungen, die vermeintlich „verdrängt“ in den unteren Stockwerken der Seele auf ihr Comeback lauern.
In der einen oder anderen Redaktion sollen übrigens deutliche Empfehlungen kursieren – bei gefürchteten Einschränkungen der Mobilität und des Geselligkeits-brauchtums müsse ausdrücklich an die Haftsituation erinnert werden. Es gehe doch letztlich um eine Quittung für leichtsinnigen Umgang und törichte Kurzsichtigkeit. Das sei die Logik der Lockerung. Dazu müsse auch das Risiko der Ansteckung deutlich „kommuniziert“ werden. Eben gerade auch im Zusammenhang mit der Frage nach Lockerungen. Eine Lockerung ist doch nichts anderes als eine als Immunitätsgarantie kostümierte Belohnung von oben des erwünschten regeltreuen Verhaltens - für jeden, der das glauben will. Dafür danken unsere Bussi-Gesellschaften dem Landesvater und der mater generosa.
Wenn „Lockerung“ audio-visualisiert werden soll, ist das eine vergleichsweise leichte Übung. Für viele Zuschauer ist das die Erfolgslektion in Fremdschämen. Auf peinliche Fragen „Wie frei fühlen Sie sich jetzt?“ kommen zuverlässig noch peinlichere Antworten:
Sehr, unbeschreiblich, ganz wunderbar frei - auf diesen Tag ewig gewartet! – Jetzt wieder voll die Freiheit leben – Frei sein ist doch ganz wunderbar.
Freiheit die ich meine...
Um diese interviewte Freiheit würden wohl nur sehr wenige Menschen ernsthaft kämpfen. Auch der Standardseufzer „Endlich wieder…“ klingt seltsam unangemessen und befremdlich. Das Bier auf der Straße wird zum Freibier. Endlich wieder dieses Dürfen dürfen. „Man fühlt sich wieder so wunderbar frei!“ beteuert ein junger Mann, der offensichtlich keine Ahnung davon hat, wie sich Unfreiheit wirklich anfühlt. Er denkt nicht an die Türkei oder an Lateinamerika. Es gruselt ihn, wie sich Polizeibeamte als Verteidiger der Ordnung versuchen und die Schrei-Chöre der Demonstrierenden hinter den Tränengaswolken abtauchen. Die Uniformierten stehen im Einsatz für eine freie und natürlich demokratische Regierung. Nur dass sie sich gerade nicht für eine Freiheit schlagen sollen, die auf öffentliche Ruhe und Sicherheit angewiesen wäre. Auch umgekehrt geht die Rechnung auf. Die Einwohner brauchen ja keine Märtyrer und Opfer, um mit Pflastersteinen und Betonbrocken wie von Sinnen auf Polizeifahrzeuge einzudreschen. Die Verhaltensmuster sind ungefähr hundert Jahre alt. Die junge Generation hat sie den Illustratoren der Kommunistenhatz zu Kaiserzeiten abgeschaut.
Es gibt beileibe keine Freiheiten, die ein Regierender gewähren könnte. Es gibt auch keine Freiheit, die auf Zaunlücken ringsum angewiesen wäre. Man darf das allen Ernstes zu Ende denken: Es ist nicht die eine oder andere Einschränkung, die unsere Freiheit mindert. Es ist die archaische Berufung auf Gewalt und Unterdrückung, mit der nicht nur Regierungen ihre Macht festigen und ausbauen wollen. Es gibt doch genauso die karitative Herrschaft, die seit Hunderten von Jahren mit Wohltaten und Zuckerbrot ihre Herrschaft zu rechtfertigen versteht. Wer immer heute zum Kampf gegen solidarische Schutzreaktionen aufruft, sollte bitte künftig auf Freiheitsgesänge verzichten. Am Lobgesang auf Lockerungen wird man erkennen, wem die Idee der Freiheit auch nach 200 Jahren fremd geblieben ist.
Unser Autor
Georg M. Sieber, Jahrgang 1935, ist Diplompsychologe in München. 1964 gründete er sein Institut für Angewandte Psychologie, die Intelligenz System Transfer GmbH (11 Niederlassungen). Sein persönliches Interessengebiet sind Schriften historischer Vorläufer der heutigen Psychologie, de Federico II., Machiavelli, Palladio, Ínigo López de Loyola u.a. Für den fachlichen Austausch steht er gerne zur Verfügung:
Dieser Beitrag ist erschienen im Newsletter 'Karriere-Jura', den Sie hier abonnieren können. Copyright Artikel: Karriere-Jura GmbH, Karriere-Jura.de® Bilder: Pixabay